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MEINUNG

Kunst ist kein Luxus (Rasenmähen)

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paola de martin
29.6.2024

Ich habe während meiner Forschung über Arbeiter:innenkinder, die Designer:innen werden, oft die Aussage gehört, dass Kunst ein Luxus sei – das sei doch der wahre Grund, weshalb Welten zwischen den Arbeitermilieus und der Kunst- und Designszene liegen.

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass diese Vorstellung falsch ist. Dass der Kunstbetrieb die Arbeiter:innen und ihre Kinder nicht interessiert, das stimmt bis zu einem gewissen Grad, aber das liegt nicht an ihnen. Arbeiter:innenfamilien sind im Kunstbetrieb, so würde ich es formulieren, "unmögliche Subjekte", sie kommen, wenn überhaupt, dann höchstens am Rand als Objekte von Kunstprojekten vor.

Ich wollte das nicht und habe einmal mit meinen Eltern, als sie schon pensioniert waren und in Italien lebten, die Kunstbiennale in Venedig besucht. Sie wohnten damals eine Stunde Autodistanz von Venedig entfernt, in einer kleinen Provinzstadt. Zwischen ihrem Leben und dem Treiben an der Biennale lagen Welten. So wie Welten zwischen dem Departement Architektur, an welchem ich heute arbeite, und dem Quartier, in welchem ich aufgewachsen bin, in Zürich-Nord, liegen. Zehn Minuten braucht es mit dem Velo von einem Ort zum anderen, aber es ist, als ob man einmal um die Welt fliegen würde. Soziale Welten, die einander immer und immer wieder fremd gemacht werden durch das Re-Enactment alter, festgefahrener Klassenstrukturen. Wie geht das? Menschen, die kulturelles Kapital besitzen, brauchen ohne lange nachzudenken ihre Macht, um zu definieren, was Kunst überhaupt sei. Menschen, die kein kulturelles Kapital besitzen, üben sich meist in stillem Groll gegen diese Definitionsmacht und übernehmen schweigend die Urteile der Mächtigen. An diesem Tag mit meinen Eltern an der Biennale habe ich beide Haltungen abwechselnd bei ihnen wahrgenommen. Und ihre Furcht, ich könne ebenfalls – da in Besitz von wachsendem kulturellem Kapital – schlecht über sie urteilen.

Ich habe mich damals, einmal mehr, bewusst dafür entschieden, die Urteils- und Definitionsmacht der etablierten Kultur herauszufordern mit neuen Definitionen. Ist Kunst ein Luxus? Dieses Foto hat mein Vater gemacht, als sie, nach der Pensionierung, aus der Schweiz wegzogen und in ihrem Haus in Italien wohnten. Ein Haus, das sie über Jahrzehnte hinweg gemeinsam aufgebaut hatten, er und meine Mutter, mithilfe vieler Verwandten und Freund:innen vor Ort. Und nun: Wenn der Rasen vor dem Haus hoch genug war, haben sie die Namen ihrer Töchter, die in der Schweiz ihr Leben leben, abwechselnd herausgemäht, sie haben diese Rasenskulpturen fotografiert und uns die Fotos geschickt. Es sind wunderbare Fotos, sie sind – welche Kunstfertigkeit! – sozial und ästhetisch schön.

Rasen Paolademartin Für Kerim 2024

Ich habe sie gefragt, was sie dazu antrieb. Meine Mutter und mein Vater haben mit diesem performativen Akt, so würde ich ihre Antwort mit eigenen Worten wiedergeben, ihren ganz eigenen Spielraum betreten und umgestaltet. Sie haben in diesem Akt ihre unbefriedigte und aufgestaute Sehnsucht nach einer ganzen Familie manifestiert und gleichzeitig das Trauma der Trennung und Demütigung ansatzweise heilen können; das Trauma, als migrantische Arbeiterfamilie in der Schweiz unerwünscht gewesen zu sein.

Kunst ist kein Luxus. Kunst schafft es, uns spielerisch Sicherheit zu geben, wenn wir in gesellschaftliche Abgründe schauen. Abgründe, wie patriarchaler Klassenhass und Rassismus gegen migrantische Arbeiterfamilien in der Schweiz einer ist. Und nicht nur da. Wenn hässliche Attacken gegen Migrant:innen in Italien meine Mutter wieder einmal fertigmachten, hielt sie sich an widerständischen Texten fest. Sie sagte, meno male che ci sono questi artisti, zum Glück gibt es diese Künstler! Sie sog diese Texte – von Primo Levi, Roberto Saviano oder Elena Ferrante – ein, wie andere frische Luft einatmen, das war ihr Lebenselixier, ihre Rettung. Dies wiederum hat mir erlaubt, meinen schwierigen Weg vom Arbeiterkind zur Designhistorikerin ganz einfach zu gehen.

Wenn ich an meine Eltern denke, die Arbeiter:innen waren, wenn ich an mich denke, ihre Tochter, dann kann ich mit Sicherheit sagen: Kunst ist kein Luxus. Kunst ist ein tief menschliches Bedürfnis, Kunst kann Arbeiter:innen retten vor dem Klassenhass und der habituellen Selbstverachtung, Kunst kann getrennte Arbeiter:innenfamilien zusammenführen, Kunst schenkt den Verdammten dieser Erde, immer und immer wieder überraschende Möglichkeiten, eine andere Welt zu gestalten. Und wir, wenn wir kulturelles Kapital besitzen, sollten sie – im Gegenzug – mit kulturellem Kapital beschenken.


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paola de martin
Autorin
Paola De Martin ist Pädagogin, Textildesignerin und Historikerin. Sie war Mitgründerin des Zürcher Modelabels Beige und baute den Studienschwerpunkt Nachhaltige Entwicklung der Textildesignklasse an der HSLU auf. Heute ist sie Postdoc am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich. Ihr Forschungsfokus liegt auf der Schnittstelle zwischen Arbeitsmigration und Menschenrechten. Zudem ist sie Co-Leiterin der Arbeitsgemeinschaft Schwarzenbach-Komplex, engagiert sich im postmigrantischen Institut Neue Schweiz und ist Vereinspräsidentin von TESORO. Paola De Martins Arbeit wurde mit dem Schweizer Grand Prix Design 2024 ausgezeichnet.