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KEIN REISEBERICHT

Endstation Sapri

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johannes maas
14.7.2024

Also ich wollte eigentlich damit anfangen, dass ich im Paradiso schnell einen Espresso im Stehen an der Bar trinke.

Das Paradiso liegt zwischen dem Eingang der Giardini der Biennale und dem Canale Grande in Venedig. Es ist schon kurz nach elf Uhr vormittags und ich beobachte die Tourist:innen in der Bar, wie sie, an Tischen sitzend, ihr Cornetto in ihren Cappuccino eintunken. Nach elf Uhr Vormittags wird in Italien kein Kaffe mit Milch mehr getrunken und auch das Cornetto zum Frühstück sollte davor schon erledigt sein. Ich wollte beschreiben, wie ich versuche, dem Barista und allen anderen Italiener:innen im Raum zu signalisieren, dass ich das verstanden habe und auf keinen Fall als normaler Tourist abgestempelt werden möchte. Ich frage nach der Rechnung auf italienisch und hoffe, dass mein Reiseitalienisch für etwaige Nachfragen ausreichen wird. 

Die Erzählung wäre dann so weiter gegangen, dass ich die lange Schlange vor dem Eingang zu den Giardini selbstbewusst überhole und in den folgenden Stunden die Pavillons der diesjährigen Kunstbiennale besuche. Ich wollte ausführen, wie ich mit einer, über die Jahre angeeigneten, Souveränität und Routine die dort ausgestellte Kunst verstehe und zeigen, dass ich mich dazu richtig verhalte. 

Nach zwei Tagen in Venedig fahre ich weiter nach Sapri. In der kleinen Küstenstadt im südlichsten Kampanien besitzt die Familie meiner Verlobten eine Wohnung am Lungomare. 

Dort besucht mich ein langjähriger Freund, der nun in Lissabon lebt. Wir verbringen den Abend mit Aperitivo am Lido. Dieser Freund erzählt von einem neuen Bekannten aus Lissabon, dessen Eltern eine 80er-Jahre Strandvilla in Kalabrien, nur wenige Kilometer südlich von Sapri, besitzen. 

Dieser Bekannte hat anscheinend in Singapur mit dem Verkauf seiner Internetunternehmen sehr viel Geld verdient. Mein langjähriger Freund und sein Bekannter arbeiten online für Firmen, deren Sitze nicht in Lissabon sind. Meistens verpasse ich beim Kennenlernen „digitaler Menschen“ den richtigen Moment für die Frage nach ihren genauen Aufgaben im Job.

Jedenfalls wäre meine Erzählung damit weiter gegangen, dass der Freund meines langjährigen Freundes uns spontan für den nächsten Tag zu sich in die Villa einlädt. Er verbringt zwei Monate dort und hat permanent Besuch von Bekannten. Alle kennen sich.

Dort ist es genau wie ich es mir vorgestellt habe. Nur etwas anders weil ich zum ersten mal spontan in eine Architektinnen-Villa im Süden Italiens eingeladen werde. 

Bootfahrt Venedig Bild in Text

Bis hierhin sollte mein Reisebericht sehr gelangweilt-selbstverständlich daherkommen. Als Vorlage hatte ich mir Faserland von Christian Kracht herangezogen. Meine ursprüngliche Idee war, meinen Italientrip im vergangen Juni als übliches „sich treibenlassen“ im Sommer zu beschreiben. Ein Künstler auf der Suche nach Inspirationen und Dolce Vita. 

Erst zum Ende des Textes wollte ich einen Twist einbauen: mein Lifestyle und das Ermöglichen meiner Reise basiert nicht auf einem guten Einkommen in Verbindung mit viel Freizeit. Auch nicht auf Erbschaft oder Bitcoins. In meinem Leben mache ich immer wieder Erfahrungen, welche von außen den Anschein erwecken, sehr kostspielig zu sein - mir wurden diese Türen aber durch mein hart erarbeitetes „kulturelles Kapital“ geöffnet. Mit zehn Jahren Studium und zehn weiteren Jahren Arbeit in der Kulturbranche haben ich mir ein wenig Selbstverständnis angeeignet. Ein Selbstverständnis, welches viele von den Menschen, die mir über die Jahre in der Kunstszene begegnet sind, auf natürliche Weise ausstrahlen. Vielleicht, weil sie schon als Kinder mit ihren Eltern auf Biennalen waren. 

Mein Selbstverständnis ist immer noch fake, wenn ich ehrlich bin.

Der Grund warum mein Text schlussendlich keine abgeklärte Beschreibung eines Italientrips wurde, hat seinen Ursprung ebenfalls in Venedig. 

Am ersten Abend liege ich im Hotelzimmer auf der kleinen Insel San Servolo, zwanzig Vaporetto-Minuten vom Markusplatz entfernt, nackt im Bett. Ich überlege ob ich mir einen runterholen soll. Unentschlossen beginne ich meine Hoden anzufassen und bemerke, dass der rechte Hoden sich härter anfühlt als der linke. In den folgenden Tagen betaste ich den Hoden immer wieder und stelle fest, dass er sich zusehends verhärtet und grösser wird. Nach fünf Tagen ist er steinhart. In Sapri bespreche ich das mit meiner Verlobten. Sie ist Ärztin. Zu 95 Prozent ist es Hodenkrebs, sagt sie.

Zurück in Wien, wird in der Klinik Favoriten die Verdachtsdiagnose vom Urologen bestätigt. Genau genommen ist der ganze rechte Hoden zu diesem Zeitpunkt schon Tumor. Nach weiteren Untersuchungen wird eine Woche später der erkrankte Hoden samt Nebenhoden und Samenleiter über einen Schnitt in der Leiste operativ entfernt. 

Im Fentanylrausch träume ich von Sapri.

Der Eingriff war vor zwei Wochen. In dieser Zeit beschäftigte ich mich mit den Schmerzen nach der Operation, dem Gefühl nur mehr einen Hoden zu besitzen, Spermatogrammen, Kinderwunsch und Testosterondefizienz. Ursprünglich wollte ich in diesen zwei Wochen nach Berlin reisen und an zwei Projekten arbeiten. Diese musste ich jetzt absagen, den finanziellen Ausfall in Kauf nehmen. Das erarbeitete kulturelle Kapital nützt mir in dieser Situation wenig.

Mit der Operation wurde der ganze Tumor entfernt und es gibt keine Metastasen im Körper. Bei Männern zwischen 20 und 44 ist Hodenkrebs die häufigste Krebsart und zu 95 Prozent komplett heilbar. So wie es aussieht gehöre ich zu den 95 Prozent. 

Das ist natürlich toll. Ein wenig Schade ist, dass ich nach drei Wochen wieder offiziell arbeitsfähig gelte. Bei meiner Krankenkasse der Selbstständigen hätte ich erst ab 42 Tagen Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf Unterstützungsleistung für maximal 20 Wochen. Diese beträgt 37,28 € täglich.

Das bedeutet auch, dass ich mich nun langsam wieder zusammenreissen muss und produktiv sein. Nun beginnt wieder diese Zeit im Jahr, in der ich mir Gedanken mache, ob ich mir eine fixe Arbeitsstelle suchen sollte. Jedes Monat ein Gehalt, versichert und bezahlter Krankenstand. 

Ich hoffe ich werde auch dieses Jahr nicht schwach und träume weiter vom Selbstverständnis. 

Vielleicht sollte ich mich im nächsten Projektantrag mit dem Thema Semi-Kastration befassen.

Hoffentlich fällt mir noch etwas besseres ein.


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johannes maas
Künstler
Johannes Maas ist auf einem Bergbauernhof in 1.600 Meter Seehöhe aufgewachsen. Mit seinen Eltern war er in seiner Kindheit einmal in Ligurien am Meer. Die restlichen Ferien verbrachte er mit Heuarbeit. Die Architektur-Biennale in Venedig besuchte er zum ersten Mal auf einer Studien-Exkursion im Alter von 24.